Meine Frau sagt, 


wenn ich etwas erzählen wolle, fange ich VOR Adam und Eva an. 

Ja, das kommt vor. 

Das war, als wir noch in Finnland lebten. Aber hier, in Deutschland meine ich, sollte sich Ähnliches zutragen können.

Nämlich, der Stadtteil, in dem wir wohnten, war sehr grün (und im Winter sehr weiß). Und bestand aus lauter Holzhäusern, die sich besser bezahlte Arbeiter noch vor dem Krieg gebaut hatten, Dachdecker, Lokführer, Schornsteinfeger, solche Leute. Anderthalbstöckige Holzhäuser mit Strom, aber Holzheizung, (kaltem) Wasser aus der Wand, Plumpsklo und Sauna im Keller. Der nur vom Garten aus zugänglich war. 

Diese Generation war gestorben, ihre Kinder waren in die Innenstädte gezogen, Siedlungen wie die oben beschriebene waren längst Vorstädte geworden. Was in die Holzhäuser nicht zog, sondern DRÄNGTE, war die Universität. Nicht die Universität, keine Professoren, keine Studenten - der sogenannte Mittelbau. Assistenten, Doktoranden, Universitätslektoren. Kauften den Erben jener besseren Arbeiter die Holzhäuser ab und modernisierten sie selbst. Zentralheizung, warmes Wasser aus der Wand, eine Treppe zu einem schicken Bad im Keller, ich habe den späteren Linguistenpapst Juha Mänttäri Holzfußböden abschleifen sehen. Nur die Sauna blieb die alte. Aus Nostalgie. 

In einem solchen Haus wohnten wir, meine Frau und ich. Und uns schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wohnte die Familie, von der ich erzählen will. Vater, Mutter und ihr kleiner Sohn. Klein, weil er erst fünf oder sechs war, als die Familie hierher zog. Aber klein auch, weil er klein war. Auch seine Eltern waren klein, aber klein ist das falsche Wort. Fein, zart, vornehm trifft es besser. Fein und klein, aber sehr bestimmt in Ton und Tun. Was sie taten, war, beide Eltern arbeiteten an ihren Dissertationen, jeder an seiner. Wovon die Nachbarschaft nur verstand, daß sie unter bösem Druck arbeiteten. Es ging um eine Stelle an der Uni, die zu kriegen man promoviert haben mußte. Um EINE Stelle, so daß die Frau Konkurrentin ihres Mannes war und der Mann Konkurrent seiner Frau. Aber einer der beiden MUSSTE die Stelle kriegen, weil die Bezahlung dieser Stelle vorerst das einzige Einkommen der Familie sein würde. 

Ich erinnere mich, worüber sie schrieben, das heißt, ich erinnere mich, wie man ausspricht, worüber sie schrieben: über Lipoproteine. Allerdings weiß ich schon nicht, wie sie, Lipoproteine, wie sie sich schreiben. Ob sie sich nicht Lipo-Bindestrich-Proteine schreiben. Lipoproteine sind Bestandteil unserer Nahrung, aber, wie üblich, nicht Bestandteil von allem, was wir essen, und nicht in allem, worin sie enthalten sind, in der gleichen Menge. Und das war, was die drei, Vater, Mutter und Sohn, gelegentlich unerträglich machte. Aus unserer, meiner Frau und meiner Sicht. 

Es war an einem wahrhaft wunderschönen Sommersonntagmorgen. Wir sitzen nachbarlich zusammen am Frühstückstisch, am Frühstückstisch im Garten. Meine Frau ist ins Haus gegangen, jetzt kommt sie mit einem Tablett in beiden Händen zurück, worauf fünf Eierbecher stehen, in jedem ein Ei. Meine Frau setzt das Tablett auf den Tisch und sagt: Genau fünf Minuten! Bitte, bedient euch. Nimmt einen der Eierbecher und stellt ihn vor den Jungen. Samt Ei.

Da wir in unserem, meiner Frau und meinem Garten saßen, waren die beiden Biochemiker und ihr Junge unsere Gäste. Ich kann also von „unseren Gästen“ sprechen: Unsere Gäste sitzen da wie versteinert, den Blick gesenkt. Der Junge schiebt den Eierbecher samt Ei, den meine Frau vor ihn gestellt hat, von sich weg zur Mitte des Tisches. Und fängt an zu weinen. Seine Mutter sagt: Wenn ihr wüßtet, was ihr ihn zu essen auffordert, würdet IHR weinen! 

Wieso das denn? 

Weil, und dann eine Vorlesung über Lipoproteine. Und Cholesterin. Soweit ich mich erinnere, verstopft Cholesterin die Blutgefäße. Und Lipoproteine machen sie wieder frei. Aber Eier, Eier enthielten so viel Cholesterin, daß sie sie in ihrem Institut schon mal ausgeblasen hätten und die leeren Eier so bemalt, daß sie wie kleine Totenköpfe ausgesehen hätten. Und dann: Entschuldigt uns. Und: Vielleicht ein andermal. Und weg sind sie.

Natürlich! sagt meine Frau, und schlägt sich vor die Stirn, die Medien sind ja voll davon. Eine Kampagne, wonach wir jeder pro Woche höchstens ein Ei essen sollen. Allerhöchstens, lieber gar keins. Und Cholesterin und Lipoproteine sind ihr Fachgebiet, natürlich … 

Was ich leicht hatte ignorieren können, weil ich fast alles auf Finnisch ausdrücken konnte, irgendwie. Aber kaum etwas verstand, was man mir auf Finnisch sagte. - 

Diese Geschichte ist vierzig Jahre her, glaube ich, nach vierzig Jahren fing meine Frau plötzlich wieder davon an - warum?

Weil, sagte meine Frau, erinnerst du dich nicht? So wie heute sämtliche Medien gegen Autos hetzen, gegen Autos mit Verbren­nungsmotor, so hetzten sie damals gegen Eier. Wenn man den Medien glaubte, damals, starb niemand mehr an etwas anderem als am Cholesterin, das wir jeden Morgen mit dem Frühstücksei zu uns nahmen. Verstehst du? - so wie heute Autos mit Verbrennungsmotor schuld an allem sind. Ich verstehe nicht, daß noch keiner entdeckt hat, daß sich das Corona-Virus im Auspuff von Verbrennungsmotoren bildet. 

Schade, daß du dich nicht daran erinnerst, es könnte dir die Angst vor einem Wahlsieg der Grünen nehmen. Es war ja alles nicht wahr. Irgendein Schreiber hatte von einem Zusammenhang zwischen Hühnereiern und Herzinfarkten gelesen, hatte seinerseits etwas darüber geschrieben. Eine frühe Verschwörungstheorie, würde man heute sagen, und eine für die Zeit sehr erfolgreiche. 

Sowie: Ich? sagte meine Frau, - an der Tödlichkeit von Eiern habe ich sofort gezweifelt; daran, daß ein Klimawandel  stattfindet, und eine Klimakatastrophe droht, daran nicht. Aber daß herauskommt, daß Klimawandel und Klimakatastrophe NICHT von Autos verursacht werden, auch nicht von Autos mit Verbrennungsmotor, für unmöglich halte ich das nicht. Ich halte es sogar für wahrscheinlich.